In Abbé Stocks Tagebuch lesen wir immer wieder Eintragungen wie diese:
"Am 20. September zwölf Hinrichtungen (Geiseln).
Am 17. Oktober eine Hinrichtung (Vater von fünf Kindern).
Am 14. Dezember 82 Hinrichtungen (Geiseln)."
Und immer ist Abbé Stock anwesend; er tröstet die Tobenden, streichelt die Stillen und weint mit den Weinenden. Er hört Beichten und spendet die Sterbesakramente, liest Menschen mosaischen Glaubens aus dem Alten Testament vor (Rabbis gibt es natürlich keine mehr) und versucht verzweifelt, auch jene zurückzuholen, die von Gott nichts mehr wissen wollen. Häufig misslingt es; oft schmähen die Männer ihren Schöpfer und streben mit dem Namen Lenins auf den Lippen.
Vom Juli 1942 schreibt Franz Stock, schwer herzleidend, an einen Freund: "Ich meine oft, ich könnte nicht mehr. Was ich hier erledige ist so furchtbar, dass ich nächtelang schlaflos liege."
Zuvor geriet er zwischen alle Fronten. Die Franzosen nannten den blauäugigen Blonden zunächst verächtlich einen "Nazi-Boche", die schlimmste aller denkbaren Beleidigungen, die Gestapo ihrerseits und die mit ihr zusammenarbeitenden französischen Milizen verwehren dem Priester, der sich konstant weigert, die Uniform des Militärseelsorgers anzuziehen, zunächst den Besuch der politischen Gefangenen, müssen aber nach dem Protest des deutschen Botschafters nachgeben. Dennoch bleibt ihr Argwohn gegenüber dem "Franzosenfreund" bestehen.
Nicht ohne Grund: Der anfangs von den meisten Häftlingen abgelehnte "Boche" wird schon nach kurzer Zeit zu ihrem Vertrauten. Er schmuggelt Kassiber in die Zellen und Botschaften an die Angehörigen hinaus, besorgt frische Wäsche und Lektüre, Zigaretten und Süßigkeiten und leistet - was für die meisten das Wichtigste ist - den Hoffnungslosen und Verzweifelten seelischen Beistand.
Und er ist ebenso listig wie mutig. Edmond Michelet, später französicher Armee- u. Justizminister, erinnert sich, wie Abbé Stock die deutschen Wachen in Fresnes überlistete, wo Michelet eingesperrt war:
"Dieser deutsche Priester versah sein Amt mit unglaublicher Freundlichkeit, mit Takt und Nächstenliebe. Als er mich verließ, schob er mir eine Bibel zu, die P. Maydieu, ein treuer Freund und nicht minder treuer Mitverschworener, ihm für mich mitgegeben hatte; er versprach mir, nächste Woche wiederzukommen. Dann tat er, als ob er weggehen wollte, aber - zurückkehrend - flüsterte er mit noch leiserer Stimme: "Wir wollen zusammen ein letztes Ave Maria sprechen."
Wir hatten uns hingekniet und drehten dem Feldwebel den Rücken zu. Er fuhr mit der gleichen Stimme fort:"Ave Maria, gratia plena ... Ihre Frau hat mich gestern aufgesucht; es geht ihr sehr gut und den Kindern auch ... Dominus tecum ... sie lässt Ihnen sagen, sie sollen sich keine Sorgen machen, es geht alles gut zuhause ... benedicta tu in mulieribus."
Eine wichtige Botschaft, denn die Gestapo hatte den Häftling glauben lassen, seine Frau befinde sich als Geisel in ihrer Gewalt. Nun, da er wusste, dass sie in Sicherheit war, konnte er mit größerer Gelassenheit dem nächsten Verhör entgegensehen.
Doch die Hinrichtungen gingen weiter, und ihre Zahl steigerte sich auf erschreckende Weise nach der Landung der Alliierten in der Normandie. An die viertausend Gefangene sind während der Besatzungszeit in Paris erschossen worden, und die meisten hat Abbé Stock in den Tod begleitet.
Irgendwann hat er schließlich aufgehört zu zählen.